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Kerstin Freudiger, Die juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen
(= Beiträge zur Rechtsgeschichte des 20. Jahrhunderts Bd. 33), Mohr Siebeck, Tübingen 2002.

Eine Rezension von Prof. Martin F. Polaschek, Univ. Graz

Die Arbeit beruht auf einer im April 1999 an der Fakultät für Geistes- und Sozialwissenschaften der Universität Hannover approbierten Dissertation. Absicht der Studie ist nicht eine Bewertung, inwiefern die westdeutschen Gerichte bei der Ahndung von NS-Gewaltverbrechen erfolgreich waren (oder nicht), sondern die Herausarbeitung der unterschiedlichen Behandlung der verschiedenen Gruppen von NS-Verbrechen und -Verbrechern.
Kerstin Freudiger greift dazu einzelne Verbrechenskomplexe heraus: die Vernichtung des europäischen Judentums, die „Euthanasie“, den Vernichtungskrieg sowie „Justizverbrechen“, zu denen sie auch die Denunziation zählt. Überschneidungen (so betreffen beispielsweise Verbrechen der Einsatzgruppen nicht nur eine Gruppe von Opfern) und Ausklammerungen (zum Beispiel die Verbrechen und Urteile wegen des Genozids an den Roma und Sinti) werden dabei bewusst in Kauf genommen. Der Erkenntnisgewinn ihrer Darstellungsweise, so die Autorin, „liegt zum einen darin, dass sich aus den Urteilsanalysen gleichzeitig ein Bild ergibt, wie die unvorstellbaren Massenmordprogramme arbeitsteilig angeordnet, konkretisiert und durchgeführt wurden. Zum anderen wird auch sichtbar, inwiefern sich die Beteiligung von verschiedenen Organisationen, Institutionen und Gruppen an einem Verbrechenskomplex in seiner Ahndung widerspiegelt, und inwiefern Unterschiede in der Ahndung zwischen den verschiedenen Verbrechenskomplexen bestehen.“ (S. 6)
Als Leitlinien, an denen die Verfasserin die Unterschiede herausarbeitet, dienen ihr die unterschiedlichen Ausformungen der Verurteilungen wegen Tötungsdelikten: Zum einen betrifft dies die Frage der Mitwirkung („Täterschaft“ bzw „Beihilfe“), zum anderen die Einstufung der Tat als „Mord“ oder „Totschlag“ (im deutschen Strafrecht wird darunter die vorsätzliche Tötung ohne qualifizierende Merkmale verstanden) bzw den Schuldausschluss wegen „fehlenden Unrechtsbewusstseins“.
Diese strafrechtlichen Denkfiguren werden jeweils anhand der Rechtsprechung in den vier oben genannten Verbrechenskomplexen untersucht. Dazu wurden jeweils ein bis drei Urteile pro Kategorie ausgewählt, die jeweils kurz dargestellt werden. Anschließend daran werden innerhalb der Kategorie die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Urteile diskutiert. So werden beispielsweise im Kapitel „Strafmilderung durch ‚Beihilfe‘ zum Mord“ (S. 143 bis S. 270) der Prozess gegen einen SS-Lagerarzt oder den Adjutanten des Auschwitzer Lagerkommandanten ebenso untersucht wie Verfahren gegen Führer von Einsatzkommandos. Dem „Kalmenhof-Prozess“ (und anderen Verfahren wegen aus dem Tatkomplex „Euthanasie“) werden Verurteilungen wegen Erschießungen von sowjetischen Kriegsgefangenen gegenübergestellt.
Eine Wiedergabe sämtlicher Fallbeispiele muss an dieser Stelle unterbleiben, von größerer Bedeutung sind meines Erachtens ohnehin die jeweiligen Schlussfolgerungen und Vergleiche. Hier ergeben sich zuweilen frappierende Parallelen zur Geschichte der österreichischen NS-Nachkriegsjustiz. Besonders bemerkenswert sind die Ausführungen der Verfasserin hinsichtlich des Fehlens eines Sonderstrafrechtes für die NS-Verbrechen, wie es etwa in Österreich durch das Kriegsverbrechergesetz bis in die Mitte der 50er Jahre vorhanden war. Das Argument, das „normale“ Strafrecht sei für die Ahndung dieser Verbrechen ungeeignet gewesen, geht, so Freudiger in ihren Schlussbemerkungen, am tatsächlichen Problem vorbei, da sich die deutsche Justiz „einer rechtsstaatlich angemessenen Ahndung zumindest teilweise verweigert“ habe. (S. 419) Die Rechtsprechung in NS-Verfahren entwickelte sich in einigen Bereichen „vollkommen unabhängig von den gesetzlichen Voraussetzungen, so dass sich die Frage stellt, was ‚Sondernormen‘ an der bemerkenswerten Souveränität sowohl der unteren als auch der Revisionsgerichte geändert hätten. Die Entscheidungen des Gesetzgebers hatten durchaus relative Bedeutung im Sinne einer juristischen Relevanz und der Beeinflussung des gesellschaftlichen Klimas. Wesentlich verantwortlich für die Tendenz der partiellen oder vollständigen Exkulpation von NS-Verbrechern – zu der es in der Rechtsprechung immerhin Alternativen gab – ist jedoch die Nachkriegsjustiz“ (S. 419).
Ohne Zweifel ein Buch, das zu weiteren Diskussionen anregt.



Aus: Justiz & Erinnerung 7 (Feb. 2002)