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Winfried R. Garscha
Zur Funktion der Todesstrafe

(= Kapitel 2.2. von: W. R. Garscha/Franz Scharf, Justiz in Oberdonau, Verlag des Oberösterreichischen Landesarchivs, Linz 2007, S. 52 bis 60)
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Der "Sinn" der gerichtlichen Strafe (wie auch der Begnadigung) ist seit Jahrhunderten Gegenstand politischer und philosophischer Auseinandersetzungen und auch eines der zentralen Themen der Kriminalwissenschaften.[1]
Gustav Radbruch – sozialdemokratischer Justizminister in der Weima­rer Republik und nach 1945 mit grundsätzlichen Überlegungen zur Bestrafbarkeit nationalsozialistischen Unrechts hervorgetreten (nämlich der Ersetzung des Rechtspositivismus durch die "Radbruch'sche Formel" [2]) – hat 1932 in seiner "Rechtsphilosophie
" drei Gründe der Strafe unterschieden.

  • Die Einwilligungstheorie gehe davon aus, dass der Täter durch seine Tat die Schutzwürdigkeit des von ihm verletzten Rechtsguts in Wirklichkeit bestätigt ("Der Dieb will durch die Verletzung fremden Eigentums eigenes Eigentum begründen" [3]) und daher seine Bestrafung im Fall der Entdeckung in Kauf nimmt.
  • Die Vergeltungs- und Abschreckungstheorie: Die – auch von Immanuel Kant vertretene – "Vergeltungstheorie" sieht in der Strafe eine Form der ausgleichenden Gerechtigkeit: "Wie der Ware der Preis, der Arbeit der Lohn, dem Schaden der Ersatz, so würde demnach dem Verbrechen die Strafe entsprechen."[4]
    Die Abschreckungstheorie sieht in der Strafe eine Form der austeilenden Gerechtigkeit. In ihrer ursprünglichen, "rechtsstaatlich-liberalen Gestalt konnte sie ihren Zweck der "Verteidigung der Gesellschaft" gegen den Straftäter nur erfüllen, wenn sie auf die Verhältnismäßigkeit zwischen Verbrechen und Strafe Rücksicht nimmt. In ihrer terroristischen Gestalt, wie sie sowohl vom Faschismus wie vom Stalinismus angewandt wurde, bestehe der Zweck der Strafe in der Abschreckung potenzieller Täter durch Unschädlichmachung des entdeckten Täters, was den hohen Stellenwert der Todesstrafe in diesen Strafrechtssystemen erkläre.
  • Die Sicherungs- und Besserungslehre sei eine Form des sozialen Strafrechts. Während Vergeltungs- und Abschreckungstheorie die Tat vom Täter als menschlichem Individuum lösen bzw. den Täter wie ein Rechtssubjekt des Privatrechts behandeln, erkenne das soziale Strafrecht, dass "das Verbrechen nicht etwas vom Verbrecher Loslösbares ist".[5] Wenn der konkrete Mensch in den Gesichtskreis des Rechts trete, löse sich der Täter "in mannigfache charakterologische und soziologische Typen auf: den Gewohnheitsverbrecher und den Gelegenheitsverbrecher, den Besserungsfähigen und den Unverbesserlichen, den Erwachsenen und den Jugendlichen, den voll und den vermindert Zurechnungsfähigen".[6]
    Radbruch erkannte aber bereits 1932, dass gerade die Bindung der Strafe an den Tätertyp statt an die Tat zu einem Spannungsverhältnis zwischen Spezialprävention (Hinderung des konkreten Täters an der neuerlichen Begehung von Straftaten) und Rechtssicherheit führt, die nur durch den Gerechtigkeitsgedanken aufgelöst werden könne, der "die Gleichbehandlung auch ungleicher Personen und Verhältnisse fordert".[7] Wo dies nicht geschieht, entstehe die Gefahr, dass die Strafe auch auf Vorbereitungen, Gesinnungen und Gedanken erstreckt werde und an die Stelle der gerichtlichen Strafe Maßnahmen des sozialen Schutzes oder die gesellschaftliche Sanktion (wie im sowjetischen Strafrecht) treten.
  • Was Radbruch nicht vorhersehen konnte, war die nationalsozialistische Kombination von Vergeltungs- und Abschreckungstheorie mit der spezialpräventiven Bindung der Strafe an den Tätertyp, die zur massenhaften "Ausmerzung" von Tätern führte, von denen auch künftig eine Gefahr für den Rechtsfrieden auszugehen drohte. Bemerkenswert ist, dass Radbruch, der immerhin als Justizminister der Weimarer Republik die Macht der veröffentlichten Meinung selbst erlebt hatte und wohl auch mit Kriminalstatistiken in Berührung gekommen war, in seinen rechtsphilosophischen Überlegungen keinen Platz für die praktische Seite der Vergeltungs- und der Abschreckungstheorie fand. Denn wie Medienkampagnen sowohl in Diktaturen als auch in Demokratien quer durch das ganze zwanzigste Jahrhundert zeigen, geht es den Vertretern und Vertreterinnen der Todesstrafe als "sittlich notwendiger" Vergeltung nicht um erhabene Ziele wie Gerechtigkeit, sondern um die Befriedigung von Rache-Gelüsten.[8] Und dass die angebliche Abschreckung nicht funktioniert, zeigt jeder Vergleich zwischen Justizsystemen mit und ohne Todesstrafe: Die Androhung der Todesstrafe hat keinerlei Einfluss auf das Verhalten potenzieller Täter. Doch "Entscheidungen für die Todesstrafe werden wohl stets und überall vorweg und nicht auf der Grundlage empirischer Untersuchungen oder wissenschaftlicher Erkenntnisse getroffen".[9]

    Nationalsozialistische Juristen sahen in der Todesstrafe nicht nur ein Instrument zur "Ausmerzung" von "Volksschädlingen", sie erwarteten sich von den hohen Strafen generell eine abschreckende Wirkung, die dazu beitragen könnte, jeglichen verbrecherischen Willen – wie Roland Freisler, Staatssekretär im Reichsjustizministerium, meinte – "im Keime" zu ersticken.[10] Der Leiter der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Linz, Oberstaatsanwalt Oskar Welzl, stellte hingegen 1943 ernüchtert fest, dass nicht behauptet werde könne, dass die Strafen "eine bessernde Wirkung ausüben." Zwar halte er die Strafen, die die Gerichte in Prozessen wegen Kriegswirtschaftsdelikten verhängten, in der Mehrzahl der Fälle für angemessen, doch sei keine Abnahme derartiger Straftaten festzustellen. "Die Abschreckungstheorie wird durch diese Feststellung nicht bekräftigt".[11]

    Die Auseinandersetzung um die weitere Anwendung der Todesstrafe nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur ist ein eindrucksvoller Beleg für die Zähigkeit, mit der die einmal eingeübten, von der großen Mehrheit der Juristen verinnerlichten Argumente fortwirkten. Dazu zählte die Überzeugung, dass die Todesstrafe "abschreckend" wirkt. Diese Auseinander­setzung soll daher hier kurz nachgezeichnet werden.

    Am 27. April 1945 unterzeichneten Vertreter von SPÖ, ÖVP und KPÖ die Unabhängigkeitserklärung, in der die Einrichtung der wiederhergestellten demokratischen Republik "im Geiste der Verfassung von 1920" [12] angekündigt wurde. Das Verfassungs-Überleitungsgesetz vom 1. Mai 1945 legte aber fest, dass an die Stelle des Bundes-Verfassungsgesetzes einstweilen die Bestimmungen der gleichzeitig von der Provisorischen Staatsregierung ver­kündeten Vorläufigen Verfassung [13] zu treten hatten.[14]

    Das Bundes-Verfassungsgesetz vom 1. Oktober 1920 hatte durch Artikel 85 die von der konstituierenden Nationalversammlung beschlossene Abschaf­fung der Todesstrafe im ordentlichen Strafverfahren[15] zum Bestandteil der österreichischen Verfassung gemacht. Diese Bestimmung war in der Vorläufigen Verfassung vom 1. Mai 1945 nicht enthalten. Als nach der Befreiung die österreichische Rechtsordnung schrittweise wieder in Kraft gesetzt wurde[16], erfolgte jedoch die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechts[17] in der zum Zeitpunkt des "Anschlusses" 1938 gültigen Fassung – d.h. unter Berücksichtigung des Strafrechtsänderungsgesetzes 1934[18], womit ein rechtlicher Widerspruch zwischen der vom Strafgesetz vor­gesehenen, von der Verfassung jedoch verbotenen Todesstrafe eintrat. Derselbe Widerspruch bestand übrigens hinsichtlich der 1934 abgeschafften, in der Verfassung jedoch vorgesehenen Geschworenengerichtsbarkeit. Gegen die Todesstrafe in dem der außerordentlichen Gerichtsbarkeit zugerechneten Volksgerichtsverfahren bestanden keine verfassungsrechtlichen Einwände.

    Dieser Widerspruch wurde von der Staatskanzlei von Anfang an erkannt, vom Staatsamt für Justiz (das sich dabei auf alle drei in der Provisorischen Regierung vertretenen Parteien stützen konnte) aber beiseite gewischt. [19] Ein Versuch, durch ein neuerliches Verfassungs-Überleitungsgesetz eine juristisch "saubere" Lösung[20] zu finden, scheiterte am Einspruch des Alliierten Rates. Der Widerspruch wurde schließlich durch eine bereits damals von Kommentatoren als demokratiepolitisch bedenklich bezeichnete Maßnahme aufgelöst: Am 24. Juli 1946 beschloss der Nationalrat die zeitweilige Aussetzung der entsprechenden Verfassungsbestimmungen [21] – und zwar rückwirkend mit 19. Juni 1946. Das Datum ergab sich daraus, dass die Gültigkeit der Vorläufigen Verfassung vom 1. Mai 1945 sechs Monate nach dem Zusammentritt des gewählten Parlaments endete – und dieses hatte sich am 19. Dezember 1945 konstituiert. Praktischerweise war der 19. Juni 1946 auch genau jener Tag, an dem das erste Todesurteil in einem ordentlichen Strafverfahren seit der Gründung der Zweiten Republik gefällt worden war. Durch das Gesetz vom 24. Juli 1946 wurde das Urteil nachträglich für verfassungskonform erklärt. [22]

    Die Aussetzung des verfassungsmäßigen Verbots der Todesstrafe und die Suspendierung der Geschworenengerichtsbarkeit erfolgte zunächst bis 30. Juni 1947, wurde dann um ein weiteres Jahr und schließlich ein letztes Mal um zwei Jahre verlängert. Mit der Betonung, dass es sich um Ausnahmeregelungen handle, unterstrich der Gesetzgeber die prinzipielle Gültigkeit dieser Verfassungsbestimmungen.

    Begründet wurde die Notwendigkeit der Todesstrafe mit den außerordentlichen Verhältnissen nach Kriegsende. Ihre Befürworter konnten sich auf einen außerordentlich breiten politischen Konsens stützen. Dass ihre Argumente in sich nicht "stimmig" waren, hat Roland Miklau auf einer Tagung der Reihe Justiz und Zeitgeschichte überzeugend nachgewiesen. So wurde die Notwendigkeit der nochmaligen Verlängerung der Ausnahmeregelung 1948 auf einer Enquete des Justizministeriums damit begründet, dass man "ein erschreckendes Überhandnehmen schwerer Blutverbrechen zum beobachten meinte" [23] – als ob dieser angebliche Anstieg der Gewaltverbrechen trotz Todesstrafe nicht das genaue Gegenteil, nämlich die Unwirksamkeit der Abschreckung beweisen würde. Miklau verwies auf einen anderen, wesentlichen Faktor für die Beibehaltung (oder Vorstöße von Regierungen zur Wiedereinführung) der Todesstrafe: den Einfluss der öffentlichen Meinung, auf die Regierungen Rücksicht nehmen zu müssen glauben.

    Neben den 43 wegen NS-Verbrechen in Volksgerichtsverfahren verhängten Todesstrafen (von denen dreißig vollstreckt wurden) fällten die ordentlichen Gerichte von 1945 bis 1949 weitere 57 Todesurteile (von denen 16 vollstreckt wurden). Die letzte Hinrichtung in Österreich fand am 24. März 1950 statt.[24] Zwei Monate später, am 24. Mai 1950, lehnte der Nationalrat die von der Bundesregierung beantragte neuerliche Verlängerung der Suspen­dierung von Artikel 85 B-VG ab. Am 7. Februar 1968 beschloss der Nationalrat einstimmig, die Möglichkeit zur Schaffung von Standgerichten oder anderen Formen einer Ausnahmegerichtsbarkeit aus der Verfassung zu streichen. Artikel 85 B-VG lautet seither: Die Todesstrafe ist abgeschafft.[25]

    Auch heute noch ist die Todesstrafe in vielen, auch demokratischen Staaten ein Instrument der Rechtspflege. Die traditionelle Begründung für den Vollzug dieser Strafe ist, dass damit "todeswürdige" Verbrechen geahndet würden. Womit ein Täter sein "Lebensrecht verwirkt", ist Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsenses, d.h. beruht auf einem allgemein akzeptierten Werturteil. Werturteile sind allerdings "nicht Erkenntnisse, sondern Bekenntnisse", wie Bernd Rüthers Radbruchs Ausführungen zur "Rechtswertbetrachtung"[26] pointiert zusammengefasst hat.[27] Waren es nach der Rechtsauffassung des 19. Jahrhunderts neben dem Mord noch Verbrechen wie der tätliche Angriff auf den Monarchen oder der Hochverrat, die nur mit dem Tode "gesühnt" werden konnten, so werden seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts von den Befürworterinnen und Befürwortern der Todes­strafe vor allem Verbrechen an Wehrlosen (wie die Tötung eines Kindes im Zuge eines Sittlichkeitsverbrechens) als "todeswürdige" Verbrechen genannt.

    Die Argumente zur Verteidigung der Todesstrafe haben sich gegenüber den in Radbruchs Rechtsphilosophie erwähnten Mustern nicht verändert, doch wird im zeitgenössischen Diskurs – gegenüber der früher vorherrschenden Abschreckungstheorie und der Forderung nach "Sühne" für ein besonders abscheuliches Verbrechen – vor allem mit der Spezialprävention argumentiert: Nur durch die Todesstrafe könnten solche, für die Gesellschaft besonders gefährlichen Straftäter dauerhaft und unwiderruflich "aus dem Verkehr gezogen" werden.

    Dieses Argument ähnelt der Begründung der nationalsozialistischen Strafrechtslehre für die exzessive Ausweitung des Katalogs der "todeswürdigen" Straftaten auf zuletzt 43 Delikte. Aus den Urteilsbegründungen lässt sich er­kennen, dass seitens der Richter sowohl auf die einzelne, nur durch die Todesstrafe zu "sühnende" Straftat als auch auf den "Schutz der Volksgemeinschaft" durch die "Ausmerzung" solcher Straftäter Bezug genommen wurde, wobei letzteres überwog. Schon der letzte Ministerpräsident der Habsburger-Monarchie, der Strafrechtsprofessor Heinrich Lammasch, hatte in seinem "Grundriß des Strafrechts" 1899 vor dem "Wahn" gewarnt, "durch zahlreiche Hinrichtungen belasteter Individuen eine 'Selektion' der Menschheit künstlich herbeizuführen". [28]

    Dass jemand sein Lebensrecht "verwirkte", konnte zwar im individuellen Fall auch für einen nationalsozialistischen Strafrichter darin begründet liegen, dass der Straftäter ein besonders geächtetes Verbrechen begangen hatte. Generell wurde jedoch das Lebensrecht in der Zeit des Nationalsozialismus mit dem Begriff der Nützlichkeit verbunden. Das galt übrigens auch für die Verurteilung zu Zuchthausstrafen sowie die Verhängung von "Maßregeln zur Sicherung und Besserung" (Sicherungsverwahrung, Arbeitshaus, Trinkerheilstätte). Als Hauptaufgabe des Strafvollzugs, insbesondere im Jugendstrafrecht, wurde es gesehen, aus den Verurteilten nützliche Glieder der Gesellschaft zu machen.

    Nicht nur wegen des dabei oft verwendeten "medizinischen" Vokabulars (etwa, wenn von "kranken" Gliedern des Volks-"Körpers" und "Schädlingen" die Rede war) springt die Parallele zur NS-Euthanasie ins Auge. Wie die Medi­zin griff auch die Strafrechtslehre Elemente des internationalen wissenschaftlichen Diskurses auf und setzte sie in einer Weise um, die aus "sozialhygienischen" Überlegungen ein Programm zur Massentötung machte. Im Bereich des Strafrechts betrifft das in erster Linie den seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ins Visier der Kriminalwissenschaften geratenen Typus des "Gewohnheitsverbrechers". Hatte die traditionelle Strafjustiz ausschließlich die oben erwähnte "Sühne" für Gesetzesverletzungen bezweckt, so bedeutete die Fokussierung auf den Täter statt auf die Tat einen ersten Schritt in Richtung einer modernen Strafjustiz, die an einer Läuterung der straffällig Gewordenen interessiert ist – als Voraussetzung für ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft ("Resozialisierung"). Die größte Herausforderung für dieses neue Verständnis der Aufgaben des Strafvollzugs stellten jene dar, von denen eine permanente Gefahr für den Rechtsfrieden ausgeht, seien sie nun Sittlichkeitsverbrecher oder Gewohnheitsdiebe. Die NS-Justiz "löste" dieses Problem in der Weise, dass alle, die sich als nicht resozialisierbar herausstellten, "ausgemerzt" werden sollten. Mit der Fortdauer des Krieges wurden die Aufwendungen für die Resozialisierung für immer weniger vertretbar angesehen. Durch die Herabsetzung der Strafmündigkeit ergab sich die Möglichkeit, auch Jugendliche hinzurichten, was die Jugenderziehungsanstalten "entlastete" – auch dies eine Parallele zu den ideologischen "Begründungen" für die Euthanasie-Morde, die mit der "Beseitigung" der als unheilbar diagnostizierten psychisch Kranken Platz schafften, um die Kriegslazarette zu entlasten und so den Soldaten, die als besonders wertvolle "Volksgenossen" eingestuft wurden, eine bessere medizinische Betreuung angedeihen lassen zu können.

    Während die Hinrichtungen in der Habsburger-Monarchie, zur Zeit des Ständestaats sowie in den ersten Nachkriegsjahren durch den Strang (Würgegalgen) vollzogen wurden, war die Hinrichtungsart gemäß Reichsstraf­pro­zessordnung das Fallbeil. Der Großteil der Todesurteile der NS-Justiz gegen Österreicher und Österreicherinnen, nämlich 1.184 (1.091 Männer und 93 Frauen), wurde im Hinrichtungsraum der Untersuchungshaftanstalt Wien, im Landesgerichtsgebäude, vollstreckt. Der Scharfrichter reiste aus München an. Mit der Überstellung eines zum Tode Verurteilten von Linz nach Wien war daher auch die Anforderung des Scharfrichters bei der Generalstaatsanwaltschaft München verbunden.

    Mehr als die Hälfte der in Wien vollzogenen Hinrichtungen, nämlich 653, erfolgte wegen Delikten, die erst das NS-Regime in Österreich eingeführt hatte.[29] Seit 1876 waren in diesem Gebäude Hinrichtungen durchgeführt worden – bis zur Abschaffung der Todesstrafe 1918 insgesamt zwölf. Eduard Rabofsky und Gerhard Oberkofler erklären dieses Zahlenverhältnis in ihrem Buch über den Strafrechtsprofessor Wenzeslaus Graf Gleispach folgendermaßen: "Unter Hitler wurden 97 Prozent der Todesurteile vollstreckt; unter Franz Joseph I. wurden 97 Prozent der zum Tode Verurteilten begnadigt." [30]

    Weitere Hinrichtungsstätten für österreichische Verurteilte waren Graz (ab 1944), München-Stadelheim und Berlin-Plötzensee. Todesurteile der Militärjustiz waren durch Erschießen zu vollziehen und mussten daher in geson­derten Einrichtungen, beispielsweise der Schießstätte Wien-Kagran[31], exekutiert werden. Besonders in den letzten Kriegsmonaten wurden Todesurteile (meist durch Erschießen) auch in Konzentrationslagern vollstreckt.

    Die Gesamtzahl der von Gerichten im annektierten Österreich 1938 bis 1945 verhängten (und anschließend vollstreckten) Todesurteile ist nicht bekannt. Zuverlässige Zahlenangaben existieren bisher nur für die durch den Volksgerichtshof sowie die Besonderen Senate der Oberlandesgerichte Wien (und ab 1944 Graz) Verurteilten[32]: Von den 2.137 österreichischen Angeklagten vor dem Volksgerichtshof, den 4.163 bzw. 36 Angeklagten vor besonderen Senaten des OLG Wien bzw. des OLG Graz wurden mindestens[33] 833 (d.s. 13,15 Prozent) zum Tode verurteilt. Der Großteil dieser wegen explizit "politischer" Delikte verurteilten Personen wurde hingerichtet.

    Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und das Karl-von-Vogelsang-Institut arbeiten seit 2002 an der namentlichen Erfassung sämtlicher "politischer" Opfer der NS-Herrschaft, d.h. der Hingerichteten ebenso wie der in den Konzentrationslagern und anderen Haftstätten des NS-Regimes Umgekommenen.[34] Menschen, die wegen ausschließlich krimineller Delikte hingerichtet wurden bzw. in Haftstätten eingeliefert und dort ermordet wurden oder zugrunde gegangen sind, werden nicht erfasst.


    Anmerkungen

    [1] Siehe beispielsweise den kommentierten Überblick in: Hans-Heinrich Jeschek, Lehrbuch des Straf­rechts. Allgemeiner Teil, Berlin 1972 (2. Aufl.), 43-56.

    [2] Wenn das Gesetz zur Gerechtigkeit in unerträglichem Widerspruch steht (weil es z.B. die Ausgrenzung, Beraubung und Tötung von Menschen aus "rassischen" Gründen erlaubt), trete an die Stelle des "gesetzlichen Unrechts" das "übergesetzliche Recht". Nationalsozialistische Richter und Staatsanwälte könnten sich daher nicht darauf berufen, dass sie nur "positives Recht" angewandt hätten.
    Der vollständige Text des in den Süddeutschen Juristenzeitung, 1 (1946), 105-108, veröffentlichten Aufsatzes ist abgedruckt als Anhang 3 von Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie. Studienausgabe (Hg. Ralf Dreier/Stanley L. Paulson), Heidelberg 22003, 211-219.
    Bernd Rüthers charakterisierte die "Radbruch’sche Formel" als begrifflich unscharfe Unterscheidung von "gerechten" und "ungerechten" Gesetzen, aber allgemein anerkannte "Grenze für die Ablehnung offensichtlich ungerechter ("unsittlicher") Gesetze": Bernd Rüthers (unter Mitarbeit von Alex Birk), Rechtstheorie. Begriff, Geltung und Anwendung des Rechts, München 22005, 603 (Rz. 971).

    [3] Radbruch, Rechtsphilosophie, 151.

    [4] Ebenda, 152.

    [5] Ebenda, 153.

    [6] Ebenda, 155.

    [7] Ebenda, 156

    [8] Vgl. u.a. die von Jeschek, Lehrbuch des Strafrechts, 571, zitierten Untersuchungen.

    [9] Roland Miklau, Die Überwindung der Todesstrafe in Österreich und in Europa. In: Erika Weinzierl/Oliver Rathkolb/Rudolf G. Ardelt/Siegfried Mattl (Hg.), Justiz und Zeitgeschichte. Symposionsbeiträge 1976-1993, Wien 1995, 1, 722.

    [10]Zitiert in: Benedikt Hartl, Das nationalsozialistische Willensstrafrecht, Berlin 2000, 99.

    [11] OÖLA / Gerichte Linz / OStA Jv-Akten, Sch. 2103, Lagebericht 313E-9/43 vom 30. September 1943 an den Generalstaatsanwalt beim OLG Linz.

    [12] Artikel I der Unabhängigkeitserklärung. Enthalten in: Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs, StGBl. 1/1945.

    [13] Verfassungsgesetz vom 1. Mai 1945 über die vorläufige Einrichtung der Republik Österreich ("Vorläufige Verfassung"), StGBl. 5/1945.

    [14] Artikel 4 des Verfassungsgesetzes vom 1. Mai 1945 über das neuerliche Wirksamwerden des Bundes-Verfassungsgesetzes in der Fassung von 1929 ("Verfassungs-Überleitungsgesetz"), StGBl. 4/1945.

    [15] Gesetz vom 3. April 1919 über die Abschaffung der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren, StGBl. Nr. 215/1919.

    [16] Detailliert dargestellt in: Helmut Konrad, Zurück zum Rechtsstaat (Am Beispiel des Strafrechts). In: Weinzierl/Rathkolb/Ardelt/Mattl, Justiz und Zeitgeschichte, 1, 344-359.

    [17] Verfassungsgesetz vom 12. Juni 1945 über die Wiederherstellung des österreichischen Strafrechtes, StGBl. Nr. 25/1945.

    [18] Bundesgesetz vom 19. Juni 1934 über die Wiedereinführung der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren und die Umgestaltung der Geschwornengerichte, BGBl. II, Nr. 77. Die Erlassung dieses Gesetzes durch die Bundesregierung war auf Grund der Ersetzung des Bundes-Verfassungsgesetzes von 1920 durch die austrofaschistische Verfassung vom 1. Mai 1934 möglich geworden.

    [19] Der Wiener Zeitgeschichtler Karl Haas hat darauf hingewiesen, dass die von den Beamten des Staatsamts für Justiz verwendeten Argumente die Verfassungswidrigkeit des Ermächtigungsgesetzes vom 30. April 1934, mit dem der Oktroy der Mai-Verfassung ermöglicht worden war, ignorierten: Karl Haas, Zur Frage der Todesstrafe in Österreich 1945 bis 1950. In: Weinzierl/Rathkolb/Ardelt/Mattl, Justiz und Zeitgeschichte, 1, 398.

    [20] § 8 des am 19. Dezember 1945 vom Nationalrat einstimmig beschlossenen Verfassungsüberleitungsgesetzes sah die vorläufige Zulässigkeit der Todesstrafe im ordentlichen Verfahren vor. Siehe: Leopold Werner, Das Wiedererstehen Österreichs als Rechtsproblem. In: Juristische Blätter, 29. März 1947, 141 f., zitiert in: Haas, Zur Frage der Todesstrafe, 400.

    [21] Bundesverfassungsgesetz über die Anwendung der Todesstrafe und das Schwurgerichtsverfahren, BGBl. 141/1946.

    [22] Siehe: Konrad, Zurück zum Rechtsstaat, 347 f.

    [23] Miklau, Die Überwindung der Todesstrafe, 722.

    [24] Ebenda, 723; Haas, Zur Frage der Todesstrafe, 403. Neue Forschungsergebnisse zum Vollzug von To­desurteilen der österreichischen Volksgerichte und der ordentlichen Strafgerichte nach 1945 werden in einem Aufsatz von Martin F. Polaschek und Bernhard Sebl in dem für 2008 von Heimo Halbrainer, Claudia Kuretsidis-Haider und Elisabeth Ebner vorbereiteten Sammelband Todesstrafe (= Veröffentlichun­gen der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz, 2) publiziert werden.

    [25] Miklau, Die Überwindung der Todesstrafe, 726. Miklau hob hervor (722 f.), dass die Niederlage der Bundesregierung am 24. Mai 1950 Resultat einer geheimen Abstimmung war. Mit diesem Abstim­mungsmodus reagierte das Parlament offenbar auf den Druck der Öffentlichkeit zur Beibehaltung der To­desstrafe.

    [26] Radbruch, Rechtsphilosophie, 13-20.

    [27] Rüthers, Rechtstheorie, 211 (Rz. 290h).

    [28] Heinrich Lammasch, Grundriß des Strafrechts, Leipzig 1899, 34.

    [29] Michael Neider, Der Strafvollzug auf dem Staatsgebiet Österreichs 1938-1945. In: Weinzierl/Rathkolb/Ardelt/Mattl, Justiz und Zeitgeschichte, 1, 705.

    [30] Eduard Rabofsky/Gerhard Oberkofler, Verborgene Wurzeln der NS-Justiz. Strafrechtliche Rüstung für zwei Weltkriege, Wien-München-Zürich 1985, 22.

    [31] Herbert Exenberger/Heinz Riedel, Militärschießplatz Kagran (=Schriftenreihe des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes zur Geschichte der NS-Verbrechen, 6), Wien 2003.

    [32] Wolfgang Form/Wolfgang Neugebauer/Theo Schiller (Hg.), NS-Justiz und politische Verfolgung in Österreich 1938 – 1945. Analysen zu den Verfahren vor dem Volksgerichtshof und dem Oberlandesgericht Wien, München 2006, 1.

    [33] Von 275 Angeklagten ist nicht bekannt, wie das Verfahren gegen sie ausging.

    [34] Die Vorgangsweise und die Ziele des Projekts sind beschrieben in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Jahrbuch 2007, Wien 2007, 26-35.


     

     




    Aus: JUSTIZ IN OBERDONAU (2007)