www.nachkriegsjustiz.at
   
 


»Justiz und NS-Gewaltverbrechen / Teil-Projekt "Gesellschaft und Justiz – Entwicklung der rechtlichen Grundlagen, öffentliches Echo und politische Auseinandersetzungen um die Ahndung von NS-Verbrechen in Österreich"«
Zwischenbericht 2002

(Projekt Nr. 8709 des Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank)

Das Projekt Gesellschaft und Justiz wurde 2002 mit dem zweiten Projektjahr von Mag. Eva Holpfer (Die Auseinandersetzung der österreichischen politischen Parteien mit den ehemaligen Nationalsozialisten und der Frage der Lösung des so genannten Naziproblems im Nationalrat und in den Parteizeitungen 1945 – 1975), sowie mit dem ersten Projektjahr von Mag. Claudia Kuretsidis-Haider ("Das Volk sitzt zu Gericht" – Volksgerichtsprozesse und öffentliches Echo. Eine Analyse der Berichterstattung in ausgewählten Zeitungen über die von den österreichischen Volksgerichten zwischen 1945 und 1955 verhängten Höchsturteile) fortgesetzt.

Das Teilprojekt Die Auseinandersetzung der österreichischen politischen Parteien mit den ehemaligen Nationalsozialisten und der Frage der Lösung des so genannten Naziproblems im Nationalrat und in den Parteizeitungen 1945 – 1975 beschäftigte sich mit der politischen Auseinandersetzung der österreichischen Parteien sowohl im Nationalrat als auch in den Parteizeitschriften mit dem Themenkomplex der Behandlung der ehemaligen Nationalsozialisten in den Jahren 1945 bis 1975. Der für diesen Projektabschnitt vorgelegte Endbericht behandelt die Jahre 1953 bis 1975 (VII. bis XIII. Gesetzgebungsperiode). Das zweite Jahr des Projekts wurde primär der Analyse gewidmet, da die Materialien bis auf wenige Ausnahmen bereits gesammelt worden waren.
Als Analyseinstrumentarium wurde in erster Linie die kritisch-historische Diskursanalyse – in Anlehnung an die Wiener Sprachwissenschaftlerin Ruth Wodak – in Verbindung mit der Methode der Inhaltsanalyse herangezogen. Die Analyse orientierte sich insbesondere an folgenden Kategorien, welche u.a. von Ruth Wodak geprägt worden sind:
> Exkulpierung: Hand in Hand mit der Berufung auf die Opferrolle Österreichs geht die Freisprechung des österreichischen Staates und seiner Staatsbürger von der Mitverantwortung und Mitschuld am Nationalsozialismus und seiner Verbrechen.
> Externalisierung: Der Nationalsozialismus wird als ein dem österreichischen Staat aufgezwungenes Regime dargestellt und Österreich als erstes Opfer Hitlerdeutschlands präsentiert. Somit wird auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, seinen Verbrechen und Folgen nach 1945 zu keiner österreichischen, sondern einer rein deutschen Angelegenheit gemacht.
> Gleichsetzungsstrategie: Die Behandlung der ehemaligen Nationalsozialisten und die justizielle Ahndung der von ihnen begangenen Verbrechen nach 1945 wird mit der Verfolgung der Jüdinnen und Juden unter dem NS-Regime gleichgesetzt.
> Verharmlosung, Aufrechnung, Relativierung: Der Nationalsozialismus und die nationalsozialistischen Verbrechen werden verharmlost und bagatellisiert, da dadurch das Eingestehen der Mitschuld der eigenen Staatsbürger vermieden werden soll. Hand in Hand damit geht sehr oft die Aufrechnung der Verfolgung und Ermordung von Jüdinnen und Juden mit der Behandlung der ehemaligen Nationalsozialisten nach 1945.
> Solidarisierende Argumentationsstrategien, "Wir-Diskurs": Durch die Ergreifung der Position der ehemaligen Nationalsozialisten und die damit verbundene Berufung auf eine "Wir-Gruppe" wird sehr oft zur gleichen Zeit eine Gruppe der "Anderen", nämlich der tatsächlichen Opfer des Nationalsozialismus, erzeugt.

Im ersten Jahr des Teilprojektes "Das Volk sitzt zu Gericht" wurden die Volksgerichtsprozesse, die mit einem oder mehreren Todesurteilen bzw. lebenslänglichen Haftstrafen endeten auf der Grundlage der von Karl Marschall erstellten Dokumentation Volksgerichtsbarkeit und Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Österreich sowie der von der Zentralen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz erstellten Datenbank der Wiener und Linzer Volksgerichtsverfahren eruiert. In einem zweiten Arbeitsschritt erfolgte die Durchsicht von ausgewählten Tageszeitungen der politischen Parteien und der Besatzungsmächte (u. a. Neues Österreich, Arbeiterzeitung, Österreichische Volksstimme, Kleines Volksblatt, Österreichische Zeitung, Wiener Kurier, Weltpresse, Welt am Abend und Wiener Zeitung), die noch nicht abgeschlossen ist. Bis jetzt konnten Zeitungsartikel zu 20 der 78 projektrelevanten Prozesse recherchiert und dazu 266 Datensätze in einer Datenbank angelegt werden.
Im zweiten Projektjahr wird die Datenerfassung abgeschlossen und die Zeitungsberichterstattung einer Analyse unterzogen. Folgende Fragestellungen sollen dabei berücksichtigt werden:

* Welche Zeitungen berichteten in welchem Ausmaß über die projektrelevanten Prozesse?
* Worin unterscheidet sich die Berichterstattung und in welchen Punkten gibt es Gemeinsamkeiten?
* In welchem Kontext stand die Berichterstattung, welche Ereignisse fanden zur gleichen Zeit statt, die die Berichterstattung unter Umständen beeinflusst haben mag?
* Welchen Stellenwert nimmt die Prozessberichterstattung in der jeweiligen Zeitung ein?
* Gibt es wieder kehrende Muster und Stereotypen in der Art und Weise der Berichterstattung?
* Welches Geschichtsbild wird von welcher Zeitung transportiert?
* Wie ändert sich in den zehn Jahren der Volksgerichtsbarkeit die Zeitungsberichterstattung und welche Interpretationsmuster der NS-Vergangenheit stehen wann im Mittelpunkt der Berichterstattung?

Das Teilprojekt wurde mit 1. 1. 2003 unterbrochen und soll mit 1. 7. d. J. fortgesetzt werden. Projektende ist somit der Juli 2004. Im Anschluss daran ist geplant, gemeinsam mit Mag. Sabine Loitfellner, die 2002 den Bericht Die Rezeption von Geschworenengerichtsprozessen wegen NS-Verbrechen in ausgewählten österreichischen Tageszeitungen 1956 – 1975. Bestandsaufnahme, Dokumentation und Analyse von veröffentlichten Geschichtsbildern zu einem vergessenen Kapitel österreichischer Zeitgeschichte vorgelegt hat, und Mag. Eva Holpfer die Forschungsergebnisse in das vom FWF geförderte Projekt Justiz und NS-Gewaltverbrechen in Österreich. Regionale Besonderheiten und Vergleich mit Deutschland einzubringen, und im Anschluss daran eine Publikation vorzubereiten.

Eva Holpfer / Claudia Kuretsidis-Haider / Sabine Loitfellner




Projekt durchgeführt vom Verein zur Förderung justiz-geschichtlicher Forschungen