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Das Erbe Simon Wiesenthals für die
Holocaust-Forschung
THE LEGACY OF SIMON WIESENTHAL FOR
HOLOCAUST STUDIES
Gründungssymposion des Vienna Wiesenthal Institute (VWI)


Übersicht:


Themenschwerpunkte der Tagung und Struktur des künftigen Instituts

Tagungsbeiträge zur strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechen




Veranstaltende Organisationen:
  • Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien (IfZ)
  • IFK Internationales Forschungszentrum Kulturwissen- schaften

Als wissenschaftliche Begleitveranstaltung des in Gründung befindlichen Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (VWI) hielten am 7. und 8. Juni 2006 zwei an der Gründung beteiligte Einrichtungen – das Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien (IfZ) sowie das Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) – am eine internationale Konferenz ab, die sich mit wichtigen Strömungen der aktuellen Holocaustforschung beschäftigte.

Zweck des Vienna Wiesenthal Institute

Der künftige Leiter des Vienna Wiesenthal Institute (VWI), Anton Pelinka erläuterte die Struktur des VWI: Es folgt dem Muster von Institutes for advanced studies, wie sie auch anderswo bestehen, und wird das zentrale Thema Holocaust-Forschung mit einer edukativen Funktion – der Vermittlung von Forschungsergebnissen an "Multiplikatoren". Es handle sich um kein jüdisches Projekt (obwohl man der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde für die Hilfe dankbar sei), sondern um ein österreichisches und europäisches Projekt. Daraus leite sich die Verpflichtung der Republik Österreich und der Stadt Wien zur Unterstützung des Projekts ab.
In der Gestaltung der Konferenz sah Pelinka einen Modellfall für das, was das VWI sein soll: Keine Konkurrenz für bestehende wissenschaftliche Institutionen, die keine Angst haben müssen, sie könnten durch eine zusätzliche Einrichtung benachteiligt werden – bei Fördermitteln dürfe es kein "Nullsummenspiel" geben. Mit Hilfe des Wiesenthal-Instituts sollen künftig Forschungsergebnisse, wie sie auf der Konferenz von internationalen Referenten vorgestellt werden, auch in Wien erarbeitet werden.

Namens der Veranstalter erläuterte Bertrand Perz die inhaltliche Konzeption der Tagung. Ausgehend von den Tätigkeitsfeldern Wiesenthals selbst wurden folgende Themenschwerpunkte behandelt:

  • Wer sind die Täter(institutionen)?
  • Strafrechtliche Verfolgung – wobei die Tagung internationale Zugänge in den Mittelpunkt stellte und nicht den Umgang der österreichischen Gesellschaft mit den Tätern (der allerdings Gegenstand von Diskussionsbeiträgen war).
  • Jüdische Überlebende: Simon Wiesenthal begann seine Arbeit als jüdischer "DP" in Österreich.
  • Die Bedeutung Simon Wiesenthals für die Auseinander- setzung mit dem Holocaust.
  • Antisemitismus: Simon Wiesenthal sah den Kampf gegen den Antisemitismus als eine Erziehungsaufgabe – die jüngere Generation müsse vor dieser "Krankheit" geschützt werden (das "Wie?" sollte in einem eigenen wissenschaftlichen Institut erforscht werden – es gebe schließlich auch Krebsforschungsinstitute); die ältere Generation könne von dieser "Krankheit" nicht mehr geheilt werden.


    Strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen

    Die Täter der Massenvernichtungsverbrechen und die Schwierigkeiten ihrer gerechten Bestrafung waren Thema mehrerer Beiträge der Tagung. Darüber hinaus wurden Referate über die Reaktion einiger sozialdemokratischer und kommunistischer Exilgruppen auf den Holocaust (David Bankier, Hebräische Universität Jerusalem), über jüdische Überlebende in Nachkriegsdeutschland während der Besatzungszeit (Atina Grossmann, New York University), über die Karrieren der "Rasse"-Experten der SS in der Nachkriegsgesellschaft (Isabel Heinemann, Universität Freiburg), über das nationalsozialistische Österreich als "extrem gewalttätige Gesellschaft" (Christian Gerlach, University of Pittsburgh) sowie Simon Wiesenthals Verhältnis zu Israel und seine Bedeutung für die Erinnerung an den Holocaust in Israel (Tom Segev, Ha'aretz Tel Aviv) diskutiert. Das abschließende Gespräch zwischen Walter Manoschek (Universität Wien) und Raoul Hilberg drehte sich um die Frage des Stellenwerts der Holocaust-Forschung im akademischen Leben der USA und Europas. Am Beispiel zahlreicher neuer Quellenfunde der letzten Jahre, besonders in Osteuropa, verdeutlichte Hilberg seine Überzeugung, dass es wesentlich mehr gibt, was noch nicht bekannt ist, als das, was bereits erforscht ist. Sehr skeptisch steht er den im letzten Jahrzehnt geführten Entschädigungsprozessen gegenüber; bei vielen Menschen entstehe der Eindruck, dass "die" Juden reiche Leute gewesen seien, was eine Verdrehung der historischen Tatsachen ist – die übergroße Mehrheit hatte nicht nur keine Konten in der Schweiz, sondern nicht einmal Versicherungspolizzen. Zum Abschluss der Tagung gratulierte Lutz Musner (Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften) Hilberg zum 80. Geburtstag.

  • "Handlanger der Endlösung": Die Trawniki-Männer und die Aktion Reinhard (1941–1943)
    Bevor Simon Wiesenthal sein Memorandum an die österreichische Bundesregierung verfasste, hatte er sich bereits an Robert Kennedy gewandt, da viele Holocaust-Täter, meist mit fehlerhaften oder unvollständigen Angaben über ihre Kriegsvergangenheit, in die USA ausgewandert waren. Allerdings dauerte es noch viele Jahre, bis im US-Justizministerium eine eigene Sonderermittlungsstelle, das OSI (Office of Special Investigations), gebildet wurde, die Ausweisungsverfahren ("deportation cases") vorbereitete. Grundlage des Beitrags von Peter Black (US Holocaust Memorial Museum, Washington) über die Trawniki-Männer waren Dokumente sowjetischer Strafverfahren, die dem OSI vom Archiv des russischen Geheimdienstes SFB übergeben wurden. Die aus den Kriegsgefangenenlagern ausgesonderten ehemaligen (nicht-russischen) sowjetischen Soldaten hatten sich, wie aus den Prozess-Unterlagen hervorgeht, nicht alle freiwillig als deutsche Hilfstruppen gemeldet, sondern waren oft nach dem Kriterium einer potenziellen Gegnerschaft zum Kommunismus rekrutiert worden – jedenfalls bot das ostpolnische Ausbildungslager Trawniki weit bessere Überlebenschancen im Winter 1941/42 als die deutschen Lager für sowjetische Kriegsgefangene. Die Männer (Stand Sommer 1942: 1.000 in Trawniki, 1.500 in weiteren Orten des Generalgouvernements) waren nicht alle Ukrainer, sondern Angehörige von insgesamt dreißig Nationalitäten. In Trawniki lernten sie deutsche Kommandosprache, Grundzüge der europäischen Geschichte aus der Sicht der SS und erhielten eine militärische und polizeiliche Grundausbildung. Zur "Übung" bewachten sie jüdische Zwangsarbeiter in Trawniki. Ursprünglich als einheimische Wachmannschaften ("Askaris") für künftige SS-Siedlungen im Osten gedacht, wurden die Trawniki-Männer vom Organisator der Aktion Reinhard, Hermann Höfle, schließlich mit der Durchführung der Ghetto-"Räumungen" beauftragt – der Erschießung der jüdischen EinwohnerInnen kleiner Städte bzw. ihrem Abtransport nach Bełżec oder Sobibór. Trawniki-Männer betrieben auch die Dieselmotoren, die das Kohlenmonoxyd in die Gaskammern pumpten. Sie galten vielen deutschen Kommandostellen als extrem unzuverlässig (ein Drittel desertierte aus Angst vor Disziplinarstrafen, aus mangelndem Glauben an den deutschen Sieg im Krieg oder aus persönlichen Gründen wie Beziehungen zu einheimischen Frauen). Nach dem Abschluss der Aktion Reinhard wurden die Lager geschlossen. Möglicherweise, so Black, wäre die Ermordung der 1,7 Millionen Jüdinnen und Juden im Zuge der Aktion Reinhard auch ohne die Trawniki-Männer möglich gewesen, aber nur mit ihrer Hilfe konnte Odilo Globocnik seine führende Rolle dabei spielen.

  • Die strafrechtliche Verfolgung von NS-Verbrechen in Polen (1944–1956)
    Włodzimierz Borodziej (Universität Warschau) stellte am Beginn seines Beitrags jene Personengruppen vor, deren Bestrafung nach der Befreiung als Aufgabe der polnischen Justiz gesehen wurde: Die rund 2.500 Personen im Repressionsapparat der deutschen Zivilverwaltung des besetzten Polens, generell "Volksdeutsche", polnische Kollaborateure (die 15.000 Angehörigen der so genannten "Blauen Polizei" und eine unbekannte Anzahl an V-Personen) sowie verdächtige Personen im Dienstleistungssektor, die im Umfeld der deutschen Besatzungsmacht tätig waren (von Friseuren bis zu Prostituierten). Dass "Volksdeutsche" unter einen Generalverdacht gestellt wurde, hing mit der Vorstellung zusammen, "die" Deutschen würden sich 1945 genauso verhalten wie "die" Polen 1939, d.h. in den Untergrund gehen und eine Widerstandsbewegung aufbauen. Gesucht wurden also Helfer und Begünstigte, nicht aber die "eigentlichen" Täter. Diese hatten sich größtenteils nach Westen abgesetzt, allerdings wurden über fünftausend Deutsche und Österreicher (darunter solche, die von den Alliierten an Polen ausgeliefert wurden) in Polen abgeurteilt. Grundlage der Prozesse war das Dekret über die Strafzumessung für faschistisch-hitleristische Verbrechen vom 31. August 1944, durch das eine besondere Gerichtsbarkeit geschaffen wurde, die in erster und einziger Instanz urteilte. Besonders der erste Artikel des Dekrets, der die mit der Todesstrafe bedrohten Verbrechen aufzählte, wurde von alten Juristen (die es vorzogen, das Strafgesetzbuch von 1932 anzuwenden) kritisiert, weil er nicht zwischen Mord und Totschlag unterschied, keinen zwingenden Todesbeweis bezüglich des Opfers verlangte und zudem vom Prinzip der kollektiven Verantwortung ganzer Tätergruppen ausging. Während vor dem Obersten Volkstribunal nur sieben große Prozesse geführt wurden, hatten die (nach zwei Jahren, im Herbst 1946, wieder aufgelösten) Sonderstrafgerichte rund 550.000 staatsanwaltschaftliche Anzeigen zu bearbeiten; in 20 % der Fälle wurde Anklage erhoben. Aus der bisher einzigen Untersuchung eines Sonderstrafgerichts (Toruń/Thorn) geht hervor, dass 42 % der Urteile Freisprüche waren. Insgesamt wurden rund 1.200 Todesurteile verhängt, rund 90 % aller verhängten Haftstrafen waren unter 10 Jahren, wovon die große Mehrheit auf die obligatorische dreijährige Haftstrafe für die Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen (wie Volksdeutscher Selbstschutz, Ukrainische SS, Weißrussische Hilfspolizei etc.) entfiel. Etwa ein Viertel aller Verurteilten dürfte deutscher Nationalität gewesen sein. Im Prozess gegen den Kommandanten von Auschwitz-Birkenau, Rudolf Höss, wurde erstmals eine Auseinandersetzung über die genauen Opferzahlen geführt (entgegen der von der sowjetischen Untersuchungskommission genannten Zahl von 4 Millionen Toten nannte das Urteil eine Mindestzahl von 2 ½ Millionen; die Jüdische Historische Kommission war damals schon von 1,5 Millionen in Auschwitz Ermordeten ausgegangen).

  • Die Strafverfolgung der Täter des Reichssicherheitshauptamtes in Nachkriegsdeutschland
    Michael Wildt (Hamburger Institut für Sozialforschung) schilderte die Anstrengungen der bundesdeutschen Justiz, die zentralen Organisatoren des Massenmords vor Gericht zu stellen – in drei großen Prozessen gegen 400 ehemalige Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamts (RSHA). Das Verfahren begann 1963 in Berlin. Seitens der Landesjustizverwaltungen wurden im Frühjahr 1964 insgesamt 11 Staatsanwälte nach Berlin abkommandiert. Dieser umfassendste Versuch zur justiziellen "Bewältigung" des Holocaust, der – auf der Basis des inzwischen gesicherten historischen Wissens – weit über den RSHA-Prozess der Alliierten ("Fall 9" der Nürnberger Nachfolgeprozesse) hinausgehen sollte, scheiterte an einem beiläufigen juristischen Fallstrick: Gleichzeitig mit der Änderung der strafrechtlichen Bestimmungen für den Straßenverkehr wurde die in der NS-Zeit eingeführte Gleichstellung der Tatgehilfen mit den Tätern abgeschafft; da aber die bundesdeutsche Rechtsprechung bereits in den Jahren zuvor aus allen NS-Tätern, die nicht unmittelbar selbst Gewaltexzesse begangen hatten, Tatgehilfen gemacht hatte, waren deren Verbrechen mit einem Male verjährt. Anknüpfend an die Machtlosigkeit der Staatsanwaltschaften gegen diesen Vorgang (insbesondere, nachdem sich der Bundesgerichtshof der Rechtsmeinung einiger Verteidiger in den RSHA-Prozessen angeschlossen hatte), stellte Wildt Überlegungen zu den "Aporien der Strafjustiz" an – konkret: die Ausweglosigkeit angesichts des offenbar gewordenen Widerspruchs zwischen Recht und Gerechtigkeit. Diese Aporie sei nur zu lösen, meinte Wildt, indem die juristische Straflosigkeit des Massenmords durch das Wachhalten der Erinnerung relativiert werde, und damit den Opfern schließlich doch noch Gerechtigkeit widerfahre.

  • Guilt and Accountability in the Postwar Courtroom: The Holocaust in Czortków and Buczacz, East Galicia, as Seen in the West German Legal Discourse
    Omer Bartov (Brown University, Providence/Rhode Island) analysierte am Beispiel deutscher Gerichtsverfahren gegen drei an den Verbrechen in Buczacz (Wiesenthals Heimatstadt) und Czortków beteiligte Männer, welche Auswirkungen auf die landläufigen Vorstellungen vom "Funktionieren" des Holocaust eine Strafgerichtsbarkeit hatte, die ausschließlich auf die Exzesstäter zielte (weil nur diese, unter Berücksichtigung der Verjährungsfristen, noch verurteilt werden konnten). Der für den Judenmord in Ostgalizien "typischste" Täter, ein "kalt" mordender, von der NS-Ideologie überzeugter SS-Offizier, wurde freigesprochen. Zwei weitere Angeklagte, die – als gesellschaftliche Außenseiter – durch besondere persönliche Umstände zum Teil der Mordmaschinerie geworden waren, wurden zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Die Anklagepraxis deutscher Staatsanwaltschaften habe dazu beigetragen, ein Bild des Holocaust zu produzieren, das den Massenmord als Resultat persönlicher Tötungsinitiativen versteht.

  • Das Wiesenthal-Memorandum und die Frage nach der österreichischen Verantwortung für die NS-Verbrechen
    Bertrand Perz (Universität Wien) ging in seinem Referat über das Wiesenthal-Memorandum von 1966 vor allem auf die im Begleitbrief an Bundeskanzler Josef Klaus enthaltenen Angaben über jene NS-Verbrechen, an denen österreichsiche Täter überproportional beteiligt waren, ein. Die Frage nach dem "österreichischen Anteil" am Holocaust ist nach wie vor umstritten, wie erst 2005 die heftige Kontroverse um diesbezügliche Angaben in einem Beitrag von Helene Maimann für den Katalog der Staatsvertrags-Ausstellung "Das neue Österreich" im Wiener Belvedere gezeigt hatte (der Linzer Sozialhistoriker hatte unter Hinweis auf Maimanns Beitrag empfohlen, den Katalog einzustampfen und unter Bezug auf neuere Untersuchungen in Deutschland die Überproportionalität österreichischer Täter bestritten, die von Maimann unter Berufung auf österreichische und amerikanische Autoren ). Perz zeigte an mehreren Beispielen, wie problematisch die nachträgliche Zuordnung von Tätern als "deutsche" oder "österreichische" ist und wie schwierig es ist, "die Täter" des Holocaust insgesamt zu zählen. Wiesenthal ging es nicht um das Zählen der Täter, sondern um die Benennung spezifischer Verbrechenskomplexe, an denen aus unterschiedlichen Gründen besonders viele Österreicher beteiligt waren, woraus er eine besondere Verantwortung der österreichischen Justiz ableitete.


    Einschätzung der Tagung

    Die Tagung sollte offensichtlich die internationale Vernetzung der Betreiber des künftigen Instituts demonstrieren – wofür sowohl prominente Persönlichkeiten wie der "Altmeister" der Holocaust-Forschung, Raoul Hilberg, oder der Senior Historian des US Holocaust Memorial Museums, Peter Black, standen, als auch jüngere WissenschafterInnen wie Isabel Heinemann oder Włodzimierz Borodziej.
    Mit Ausnahme des "Wiesenthal-Memorandums" von 1966 wurden keine Österreich-Bezüge ins Tagungsprogramm aufgenommen; eine Standortbestimmung der österreichischen Holocaust-Forschung war auch nicht Thema der Konferenz.
    Für künftige Veranstaltungen würde es sich anbieten, zusätzlich zu den internationalen Kontakten auf die in Österreich selbst wirkenden Einrichtungen zurück zu greifen – auch, um zu verdeutlichen, dass die vom Institut geplante Bündelung vorhandener Kapazitäten keine Phrase ist, und weder die Analyse der Rolle Simon Wiesenthals für den justiziellen und gesellschaftlichen Umgang der Zweiten Republik mit den NS-Verbrechen (bzw. die Erforschung der justiziellen Ahndung von NS-Verbrechen in Österreich) noch die Holocaust-Forschung generell bei Null beginnen muss:
  • Simon Wiesenthal und die österreichischen NS-Prozesse
    Das "Wiesenthal-Memorandum" von 1966 war bereits Thema eines Beitrags von Gerhard Botz auf der Tagung "Österreichs Umgang mit der NS-Täterschaft" zum 90. Geburtstag Simon Wiesenthals gewesen, die von der Gesellschaft für politische Aufklärung, dem Jüdischen Museum der Stadt Wien, dem Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes und dem Ludwig Boltzmann-Institut für historische Sozialwissenschaft am 2. und 3. Dezember 1998 im Wiener Alten Rathaus veranstaltet worden war. Anton Pelinka hatte auf dieser Tagung über "Simon Wiesenthal und die österreichische Innenpolitik" gesprochen, Winfried R. Garscha über "Simon Wiesenthals Beitrag zur gerichtlichen Verfolgung der NS-Täter in Österreich"; eine Publikation ist in Vorbereitung. Seit mehreren Jahren widmen sich Sabine Loitfellner und Eva Holpfer der Erforschung von Wiesenthals Rolle in österreichischen Gerichtsverfahren wegen NS-Gewaltverbrechen (die Thema mehrerer Vorträge der beiden in Wien und Graz waren). Wiesenthals entscheidende Rolle für zahlreiche Prozesse der 1960er Jahre, seine Einwirkung auf die polizeilichen Ermittlungen und die Tätigkeit der Justizverwaltung und die von ihm initiierten Kontakte, die eine Intensivierung des Informationsaustauschs österreichischer Staatsanwaltschaften mit deutschen und israelischen Ermittlern bezweckten, gehörten zu den zentralen Themen eines von der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz gemeinsam mit dem Institut für Rechtsgeschichte der Universität Graz und dem Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck 2002 bis 2006 durchgeführten FWF-Projekts, dessen Ergebnisse vor wenigen Wochen im Sammelband" Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich" publiziert wurden.
    Bezüglich der Erfassung der Gerichtsverfahren wegen NS-Verbrechen, die am Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes schon seit den 1980er Jahren einen zentralen Stellenwert einnimmt, ist die Forschung in Österreich im letzten Jahrzehnt ein gutes Stück vorangekommen und braucht – wie zuletzt die internationale Tagung "Holocaust on Trial" (Graz, 23./24. März 2006) gezeigt hat – den internationalen Vergleich nicht zu scheuen. In einigen Teilbereichen ist die formale und inhaltliche Auswertung der Gerichtsakten, die eine Voraussetzung für die Nutzung der Akten für die rechts- und zeitgeschichtliche Forschung darstellt, detaillierter als die zu deutschen Prozessen verfügbaren Findhilfsmittel – das betrifft beispielsweise die 20.000 Akten des für die amerikanische Besatzungszone zuständigen Volksgerichts Linz, die im Oberösterreichischen Landesarchiv aufbewahrt werden. Sie wurden von der Forschungsstelle Nachkriegsjustiz im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur in einem mehrjährigen Projekt erschlossen. Besonderes Gewicht legt die Forschungsstelle Nachkriegsjustiz auf die Dokumentation und Analyse von Prozessakten, die für die Holocaust-Forschung von Interesse sind. Hierbei besteht seit vielen Jahren eine enge Zusammenarbeit mit Yad Vashem und dem US Holocaust Memorial Museum, die auch in einem gemeinsamen Mikroverfilmungsprojekt ihren Ausdruck findet.
  • Holocaust-Forschung in Österreich – Täter, Opfer, ZuschauerInnen, Überlebende
    Zwar rückte im Gefolge der Auseinandersetzungen um Kurt Waldheim in den achtziger Jahren und um die Wehrmachtsausstellung in den neunziger Jahren die Täter-Forschung auch in Österreich in den Blickpunkt der akademischen Forschung, doch ist eine wissenschaftliche Beschäftigung mit den österreichischen Holocaust-Tätern nicht, wie es eigentlich nach Hans
    Safrian's erster Studie über die "Eichmann-Männer" (1993) zu erwarten gewesen wäre, wirklich auf breiter Ebene in Gang gekommen. Die in Wiesenthals Memorandum genannten "Hauptbetätigungsfelder" österreichischer Täter sind mit wenigen Ausnahmen noch ziemlich unerforscht. Allerdings entstanden in den letzten Jahren – in erster Linie betreut von Wolfgang Neugebauer und Walter Manoschek – eine Reihe von Seminar- und Diplomarbeiten, vor allem an der Universität Wien, die Ausgangspunkt für weiter gehende Forschungen sein könnten.
    Im Gegensatz zur Täter-Forschung hat die Opfer-Forschung schon früh eingesetzt, blieb aber lange ein "Reservat" jüdischer Einrichtungen sowie von lokalen Initiativen. Neben Einzelstudien (die es sowohl über jüdische Gemeinden als auch über herausragende Persönlichkeiten gibt) ist selbstverständlich die Erarbeitung biografischer Grunddaten über die Ermordeten und Vertriebenen eine zentrale Aufgabe. Auf universitärer Ebene am intensivsten betrieben wurde sie in den letzten Jahren an der
    Universität Innsbruck (Datenbank "Die Geschichte der Juden in Tirol und Vorarlberg"). Den wichtigsten Platz nimmt diesbezüglich zweifellos die vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes erstellte Datenbank "Namentliche Erfassung der österreichischen Holocaust-Opfer" ein, die 1992 von der Bundesregierung in Absprache mit Yad Vashem in Auftrag gegeben und 2001 vorläufig abgeschlossen wurde. Sie war die erste derartige online abfragbare Datenbank weltweit und enthält bis jetzt Daten zu rund 62.000 der 65.000 österreichischen Opfer der Schoah. Auf Initiative Simon Wiesenthals wurde sie im Zusammenhang mit der Errichtung des Holocaust-Mahnmals auch auf dem Judenplatz zugänglich gemacht.
    Zwar analysierten zahlreiche zeitgeschichtliche Arbeiten (besonders die Studien von Gerhard
    Botz) die Mechanismen zur sozialen und ideologischen Absicherung der NS-Herrschaft, doch die von Raoul Hilberg "Bystanders" genannten (nichts-wissen-wollenden) ZuschauerInnen selbst, also die "ganz normalen" Mitglieder der nationalsozialistischen "Volksgemeinschaft", sind ein bisher vernachlässigtes Thema der österreichischen Holocaustforschung. Die einzige umfangreiche Studie dazu wurde vom amerikanischen Historiker Evan B. Bukey ("Hitler's Austria", auch auf Deutsch erhältlich) vorgelegt. Eine wichtige Quelle für die Reaktionen der ZuschauerInnen des Massenmords waren die Gerichtsverfahren der unmittelbaren Nachkriegszeit. In der demnächst erscheinenden, umfangreichen Arbeit von Claudia Kuretsidis-Haider über die sechs so genannten "Engerau-Prozesse" wegen der Morde an ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern in Engerau/Petržalka/Pozsonyligetfalu 1944/45 und beim Evakuierungsmarsch von Engerau durch Wolfsthal und Hainburg nach Deutsch-Altenburg im März 1945 werden erstmals die Aussagen von ZeugInnen der Morde systematisch unter diesem Aspekt ausgewertet.
    Hingegen ist die Erforschung des Antisemitismus (bei Tätern wie ZuschauerInnen) seit Wiesenthals Anregungen in den 1960er Jahren in Österreich intensiv (und teilweise kontrovers) betrieben worden. Die publikumswirksamste Präsentation der Forschungsergebnisse erfolgte 1995 in der auch international beachteten Ausstellung des Jüdischen Museums der Stadt Wien "Die Macht der Bilder – Antisemitische Vorurteile und Mythen" in der Volkshalle des Wiener Rathauses (Konzeption und Gestaltung: Elisabeth
    Klamper; Festredner bei der Eröffnung war Simon Wiesenthal) mit einem umfangreichen Katalog, der den internationalen Forschungsstand zu diesem Thema bilanzierte.
    Auch über das Schicksal der Holocaust-Überlebenden liegen zwar zahlreiche Einzelstudien vor, kaum jedoch kollektivbiografische Untersuchungen. Das diesbezüglich wichtigste – von Gerald
    Sprengnagel begonnene – Projekt, "Österreichisch-jüdische Vertriebene in den USA", wird zur Zeit unter der Leitung von Albert Lichtblau (Salzburg) fortgesetzt.

    Während in den letzten Jahren der Raub jüdischer Vermögenswerte durch die Tätigkeit der
    Österreichischen Historikerkommission, die mehrere umfangreiche Publikationen zu den verschiedenen Aspekten der "Arisierung" vorgelegt hat, intensiv erforscht wurde, sind von der Mordmaschinerie erst die Zentralstelle für jüdische Auswanderung und das Ghetto Theresienstadt näher untersucht worden. Möglich sind solche Untersuchungen vor allem in jenen Bereichen, in denen gerichtliche Untersuchungen umfangreiche Aktenbestände produziert haben – das gilt beispielsweise für die Untersuchungen gegen Höfle, Lerch, Pohl und andere Angehörige des Stabes des Höheren SS- und Polizeiführers von Lublin, Odilo Globocnik, oder für die beiden Wiener Auschwitz-Prozesse des Jahres 1972. Eine Kollektivbiografie der österreichischen Täter der Aktion Reinhard ist angekündigt (Bertrand Perz), eine Untersuchung der österreichischen Opfer und Täter in Auschwitz (die in der Folge wohl auch zur Umgestaltung der österreichischen Ausstellung in der Gedenkstätte Auschwitz führen wird) fehlt aber noch; erste Ansätze dazu enthält der erwähnte Sammelband "Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht. Der Fall Österreich".
  • Unter dem gemeinsamen Dach des geplanten Instituts werden im Zuge derartiger Forschungen wohl nicht nur Synergie-Effekten auftreten, sondern es ist auch zu erwarten, dass die in Österreich erarbeiteten Forschungsergebnisse rascher und effektiver in den internationalen Wissenschaftsdiskurs eingebracht werden können.

    Winfried R. Garscha


    Links:

    Programm (PDF-Download)
    Tagungsbericht von Dirk Rupnow für H-SOZ-KULT, 18. Juni 2006
    Plädoyer für die Einrichtung des Wiesenthal-Instituts (Beitrag von Dirk Rupnow für ORF ON Science, 23. Juni 2006)
    "Ein Code für das Böse": Interview von Dirk Rupnow mit Tom Segev für die Wiener Zeitung, 27. Mai 2006
    WebSite des in Gründung befindlichen Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien (VWI)
    Wiesenthal-Memorandum 1966 (Scan des Originals im Archiv des Dokumentationszentrums des Bundes jüdischer Verfolgter des Naziregimes / Simon Wiesenthal Archiv)
    Informationen über Simon Wiesenthal auf der WebSite des DÖW
    Neue Publikation zum Umgang der österreichischen Justiz mit Holocaust und und Kriegsverbrechen




    7. / 8. Juni 2006
    im IFK
    1010 Wien, Reichsratsstr. 17




    Eröffnung durch Friedrich Stadler (IfZ), Lutz Musner (IFK), Anton Pelinka (VWI)


    Blick ins Publikum
    (7. Juni)


    Blick ins Publikum
    (8. Juni)


    Peter Black


    Włodzimierz Borodziej


    Michael Wildt


    Dirk Rupnow und Omer Bartov


    Bertrand Perz


    Walter Manoschek und Raoul Hilberg


    Blumen zu Raoul Hilbergs 80. Geburtstag


    © Fotos: W.R.Garscha