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Die Aktualität der Kriegs- und Humanitätsverbrechen im Ersten Weltkrieg
In seinem Beitrag »Der erste Weltkrieg und unsere Zeit« in Nr. 3/2004 der Mitteilungen der Alfred-Klahr-Gesellschaft befasst sich der Linzer Zeitgeschichte-Professor Hans Hautmann mit den im Ersten Weltkrieg begangenen Kriegs- und Humanitätsverbrechen und ihrer Ahndung aus österreichischer Sicht:

[...] Nicht nur der zweite, schon der erste Weltkrieg war kein Krieg zwischen Armeen in herkömmlichem Sinne mehr. Er war auch ein Krieg gegen die Zivilbevölkerung, die man blutigen Repressalien unterwarf.
Drei große Verbrechen sind im ersten Weltkrieg verübt worden: Die Gräuel der Deutschen in Belgien, der Völkermord der Türken an den Armeniern und die Ausschreitungen der kaiserlichen Armee Österreich-Ungarns gegenüber den Ruthenen und Serben. Dabei können die letztgenannten Massaker den zweifelhaften Ruf für sich beanspruchen, am unbekanntesten geblieben zu sein.
Nur die wichtigsten Fakten: Im Sommer und Herbst 1914 wurden in Galizien an die 30.000 Ruthenen, darunter auch Frauen, exekutiert, wobei die Mehrzahl der Erschießungen und Erhängungen nicht aufgrund eines Urteils in einem feldgerichtlichen bzw. standgerichtlichen Verfahren erfolgte, sondern willkürlich, auf den bloßen Verdacht hin, für die Russen spioniert zu haben, an Ort und Stelle, unter Berufung auf die so genannte „Kriegsnotwehr“, die den Offizieren der kaiserlichen Armee die Befugnis gab, solche Tötungen anzuordnen. Dasselbe mit einer geschätzten Opferzahl von ebenfalls 30.000 geschah gegenüber der serbischen Bevölkerung auf dem Balkankriegsschauplatz. (Von beiden Verbrechen zeugen die zahlreich überlieferten, berüchtigten „Galgenfotos“.) Nach dem Landesinneren wurden in Internierungslager Zehntausende „politisch Verdächtige“ deportiert, Ruthenen, Serben und Italiener. Im Ruthenenlager Thalerhof bei Graz starb im Winter 1914/15 von den rund 7000 Insassen ein Drittel an Flecktyphus. Mehrere Tausend Tschechen, Ruthenen, Serben, Slowenen und Italiener wurden von Militärtribunalen als Staatsfeinde zum Tode verurteilt und hingerichtet, wobei die Mehrzahl der Verfahren höchst zweifelhaft war und dem glich, was man üblicherweise „Justizmord“ nennt. Daneben gab es Tausende Verurteilungen zu hohen Kerkerstrafen; Hunderte dieser Delinquenten fanden in den Gefängnissen und in den beiden Militärstrafanstalten Theresienstadt und Möllersdorf, in denen entsetzliche Zustände herrschten, den Tod. In den von der österreichisch-ungarischen Armee besetzten Gebieten Serbiens, Montenegros und Albaniens standen Geiselnahmen und Geiseltötungen auf der Tagesordnung.
Diese Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Humanität wurden nach 1918 in Österreich nie wirklich aufgearbeitet und sind es bis heute nicht <Anm.1>
Wie der Verdrängungsprozess vonstatten ging, ist ein eigenes Kapitel, das hier nicht ausgebreitet werden kann. Sehr wohl muss aber etwas über die Ursachen der Exzesse gesagt werden, denn sie erscheinen jedem unbegreiflich, der nach wie vor fest an das Bild glaubt, das die Habsburgermonarchie so bühnenwirksam vor sich herzutragen verstand: dass ihre Parole „leben und leben lassen“ geheißen habe und sie die weltweit einzig patentangemeldete Heimstatt der „Gemütlichkeit“ gewesen sei. Wache Zeitgenossen wie ein Karl Kraus wussten aber schon damals, wie es um die „österreichische Seele“ in Wahrheit bestellt war, welch tiefe Abgründe finsterster Affekte unter der „feschen“ Oberfläche lauerten. Ein ungeheures Aggressionspotenzial hatten die Jahrzehnte des Nationalitätenkampfes gerade bei denen angehäuft, die „Deutschtum“ mit angeborener „Höherwertigkeit“ gleichsetzten, die sich vom Aufbegehren der „geschichtslosen Völker“ als überlegene und zum Herrschen prädestinierte „Kulturnation“ bedroht fühlten. In der Vorkriegszeit noch unterdrückt und von Konventionen gezügelt, verborgen hinter der Maske der Verbindlichkeit, freundlichen Wesens und Charmes, kamen die angestauten Ressentiments 1914 explosiv und mit furchtbaren Folgen zum Vorschein. Das lässt sich auch nicht mit dem Hinweis erklären, dass es nun einmal zum Wesen des Krieges gehört, bei allen Beteiligten die Hemmschwelle zur Tötung zu senken. Die Exzesse waren mehr und wurzelten auf einem umfassenderen Nährboden. Das wirkliche Substrat des Massenterrors war das jeglicher imperialistischer Machtpolitik inhärente sozialdarwinistische und rassistische Weltbild, das bei den Herrschenden und deren Handlangern die Bereitschaft wie den Willen auslöste, den Nietzsche-Ausspruch „Alles ist erlaubt!“ zur Maxime ihrer Behandlung von „Minderwertigen“ und „Subversiven“, ja von Beherrschten generell, zu erheben. Die unvermeidliche Folge war der Rückfall in die Barbarei. Eine schärfere Anklage gegen ein Gesellschaftssystem, das so etwas möglich machte, ist nicht denkbar.
Das Gesagte zerstört die Idylle, die vom Habsburgerreich, seinen herrschenden Kreisen und seiner militärischen Führung bis heute dominiert, gründlich. Es blieb eben nicht dabei, dass diese Schicht die Elemente imperialistischer Ideologie in sich eingesaugt hatte, sie handelte auch danach und exerzierte die Schwertstreiche im ersten Weltkrieg sogar radikaler als der deutsche Bündnispartner. Das war so, weil sich Österreich-Ungarn einem Kardinalproblem gegenübergestellt sahen, das das wilhelminische Kaiserreich in dieser Form nicht kannte, das aber die Situation Hitlerdeutschlands in einem wesentlichen Punkt vorwegnahm: Das Problem, im eigenen Machtbereich nach Millionen zählende „minderwertige“ Völkerschaften, konkret die Slawen, politisch zu beherrschen, wirtschaftlich auszubeuten und ihre nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen niederzuhalten. Zu einem Mittel, dieses Ziel zu erreichen, musste unter den Bedingungen eines imperialistischen Krieges, der sich nicht nur gegen den äußeren, sondern auch gegen den inneren Feind richtete, die Anwendung nackten Terrors werden.
Im Jahr 1998 stimmten 120 Staaten dem Statut von Rom zu, mit dem ein Internationaler Strafgerichtshof etabliert wurde, der weltweit ohne Ansehen der Person die Delikte Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Massenmorde, ethnische „Säuberungen“, Folter, Vergewaltigung) zu verfolgen hat. Der Weg zu ihm war lang und verwickelt; seinen Ausgang nahm er vom ersten Weltkrieg. Im Friedensvertrag von Versailles wurde Deutschland verpflichtet, seine Kriegsverbrecher an die Alliierten auszuliefern, um sie von Militärtribunalen aburteilen zu lassen. Die Liste umfasste 900 Namen, an der Spitze Kaiser Wilhelm II. Analoge Bestimmungen enthielt der Friede von Saint-Germain mit Österreich. Auf der von der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Italien eingebrachten Kriegsverbrecherliste befanden sich die Namen des Armeeoberkommandanten Erzherzog Friedrich, der Generäle Erzherzog Eugen, Erzherzog Joseph, Kövesz, Potiorek, Lütgendorf, Krauß, des Obersts Kerchnawe als Stabschef des Militärgouverneurs im besetzten Serbien, der Kommandanten von Thalerhof, Theresienstadt und Möllersdorf usw.<Anm.2>

Den Auslieferungsbegehren wurde von Deutschland und Österreich in keinem einzigen Fall entsprochen, womit der erste Anlauf zur Verankerung völkerrechtlicher Straftatbestände scheiterte. Der zweite, 1945/46 mit den internationalen Militärtribunalen von Nürnberg und Tokio unternommen, glückte jedoch, nicht zuletzt deshalb, weil die Sowjetunion eine der Hauptmächte der Anti-Hitler-Koalition war und im Unterschied zu Großbritannien und den USA von Anfang an auf einem ordentlichen Gerichtsverfahren bestand. <Anm. 3> Wichtigster Inhalt der Prozesse waren die drei „klassischen“ Nürnberger Tatbestände: Führen eines Angriffskriegs, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Sie wurden von den Vereinten Nationen als Grundlage eines künftigen Völkerstrafrechts anerkannt. Direkte Vorläufer des Statuts von Rom waren die vom Sicherheitsrat der UNO als Sondergerichte 1993 und 1994 eingesetzten Jugoslawien- und Ruandatribunale.
[...]


Anmerkungen


<Anmerkung 1>
Der Autor bereitet darüber schon seit längerem eine Monographie vor. An bisherigen Veröffentlichungen sind zu nennen: Hans Hautmann, Bemerkungen zu den Kriegs- und Ausnahmegesetzen in Österreich-Ungarn und deren Anwendung 1914-1918, in: Zeitgeschichte, Heft 2, Wien-Salzburg 1975; Kriegsgesetze und Militärjustiz in der österreichischen Reichshälfte 1914–1918, in: Erika Weinzierl/Karl R. Stadler (Hrsg.), Justiz und Zeitgeschichte = Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte der Gesellschaftswissenschaften 1, Wien-Salzburg 1977; Prozesse gegen Defätisten, Kriegsgegner, Linksradikale und streikende Arbeiter im Ersten Weltkrieg, in: Karl R. Stadler (Hrsg.), Sozialistenprozesse. Politische Justiz in Österreich 1870-1936, Wien-München-Zürich 1986; Blutgemütliches Etwas. Die Habsburgermonarchie, in: Fin de siècle. Hundert Jahre Jahrhundertwende. Bilder-Lese-Buch Elefanten Press, Berlin 1988; Als die k.k. Österreicher über die Serben herfielen, in: Weg und Ziel, Nr. 10, Wien 1991; Zum Sozialprofil der Militärrichter im Ersten Weltkrieg, in: Erika Weinzierl/Oliver Rathkolb/Siegfried Mattl/Rudolf G. Ardelt (Hrsg.), Richter und Gesellschaftspolitik. Symposion Justiz und Zeitgeschichte. 12. und 13. Oktober 1995 in Wien = Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Geschichte und Gesellschaft, Wien-Salzburg, Band 28, Innsbruck-Wien 1997; Die Verbrechen der österreichisch-ungarischen Armee im Ersten Weltkrieg und ihre Nicht-Bewältigung nach 1918. Referat auf der 23. Jahrestagung der amerikanischen „German Studies Association“ in Atlanta/USA 1999, publiziert auf der DÖW-WebSite; gemeinsam mit Claudia Kuretsidis-Haider: Judical Crimes as an Instrument of Internal Warfare and Subject of Post-War Justice in Austria: a Comparison of WWI and II, in: The Second World War in 20th Century History. Oslo – August 11-12, 2000. 19th International Congress of Historical Sciences = Bulletin du Comité international d’histoire de la Deuxième Guerre mondiale, n° 30/31 – 1999/2000, Cachan 2000; Die österreichisch-ungarische Armee auf dem Balkan, in: Franz W. Seidler/Alfred M. de Zayas (Hrsg.), Kriegsverbrechen in Europa und im Nahen Osten im 20. Jahrhundert, Hamburg-Berlin-Bonn 2002. Das Thema behandeln mehr oder weniger ausführlich auch: Claus Gatterer, Unter seinem Galgen stand Österreich. Cesare Battisti. Porträt eines „Hochverräters“, Wien-Frankfurt-Zürich 1967; Christoph Führ, Das k.u.k. Armeeoberkommando und die Innenpolitik in Österreich 1914-1917, Graz-Wien-Köln 1968; Eduard Rabofsky/Gerhard Oberkofler, Verborgene Wurzeln der NS-Justiz. Strafrechtliche Rüstung für zwei Weltkriege, Wien-München-Zürich 1985; Gerhard Oberkofler/Eduard Rabofsky, Tiroler Kaiserjäger in Galizien, in: Historische Beiträge. Festschrift für Johann Rainer = Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft 25, Innsbruck 1988; Rudolf Jerabek, Potiorek. General im Schatten von Sarajevo, Graz-Wien-Köln 1991; Michael Pesendorfer, Die Militärjustiz Österreich-Ungarns im 1. Weltkrieg, Diss., Salzburg 1994; Oswald Überegger, Der andere Krieg. Die Tiroler Militärgerichtsbarkeit im Ersten Weltkrieg, Innsbruck 2002; Martin Moll, Kein Burgfrieden. Studien zum deutsch-slowenischen Nationalkonflikt in der Steiermark vor dem und im Ersten Weltkrieg, Graz 2002; Anton Holzer, Augenzeugen. Der Krieg gegen Zivilisten. Fotografien aus dem Ersten Weltkrieg, in: Fotogeschichte. Beiträge zur Geschichte und Ästhetik der Fotografie, 22. Jg., Heft 85/86, Marburg 2002


<Anmerkung 2>
Hans Hautmann, Die Verbrechen der österreichisch-ungarischen Armee, a.a.O


<Anmerkung 3>
Siehe dazu: Claudia Kuretsidis-Haider, Die von der Moskauer Konferenz 1943 verabschiedete „Erklärung über die Verantwortlichkeit der Hitleranhänger für begangene Gräueltaten“. Genese, Kontext, Auswirkungen und Stellenwert, in: Alfred Klahr Gesellschaft. Mitteilungen, 10. Jg., Nr. 4, Wien 2003, S. 7-14

Vollständiger Text des Beitrags in Nr. 3/2004 der Mitteilungen der Alfred-Klahr-Gesellschaft